kommentare/autoren/dr.traude hansen 'am horizont die illusion'



Am Horizont beginnt die Freiheit, dort können Illusionen einsetzen und Träume von der Unbegrenztheit geträumt werden. Als Flucht vor der Realität, aber auch als Möglichkeit, der Phantasie freien Lauf zu lassen. Wolfgang Sinwel sucht in seiner Malerei immer mehr nach diesem Horizont, dort liegt für ihn die Chance, nach vorn zu blicken. Suchte er in seinen Bildern die Weite und das Mystische aus der Sicht eines Vogels oder Flugzeuges, so zeigt er in der letzten Zeit die Landschaft partiell, stückweise, es scheinen Ahnungen zu sein, der Illusion wird Raum gelassen.

Sinwels Bilder entstehen wie Tagebuchaufzeichnungen, spontan aus Stimmungen heraus, sie reflektieren seine Gedanken, Gefühle und Empfindungen. Bilder und Themen entstehen unvermutet auf dem Malgrund, das suggestive Einfließen ist wichtig, und somit malen sich seine Bilder selbst, wie der Künstler sagt. Für Sinwel liegt die Faszination der Malerei im Malerischen an sich, im Malen um des Malens willen. Wie die Farben sich selbst zur Wirkung bringen, wie sie sich schimmernd und schillernd, in endlos scheinenden Nuancen suchen und finden. Malschichten werden übereinander gelagert, sie entwickeln ein aufregendes Eigenleben. Die Transparenz der Farben fasziniert ihn, er schichtet sie nicht mehr übereinander, sondern zieht das Luzide, Transparente für seine Aussage vor.

Mit seinen Bildern weiß er immmer mehr Illusionen Freiraum zu vermitteln, Prämissen für eine Gedankenwelt zu geben, immer weiter geht das Experiment, im Erleben der Farben zu fliegen, das Weite und die Ferne zu suchen, den Blick statt nach unten nach vorne und oben zu richten, dem Horizont und seinem Geheimnis näher zu kommen. Seine Landschaften sind menschenleer, weil sie das Menschliche und das Seelenleben eines Menschen spiegeln; daher ist der Mensch als Ausdrucksmittel eingebunden und mystisch, die bildhafte Existenz ist unbedeutend. Sinwels Landschaften haben keinen Realitätsbezug, und wenn etwas Menschenhaftes auftauchen sollte, so wird es gleichsam malerisch wieder verleugnet. Mauern, Gebäude scheinen unzerstörbar, die Landschaft hingegen ist in steter Veränderung, sie kann auch zerstört werden. Insofern sind diese Bilder Symbole für die Vernichtung der Welt, für die Zerstörung der Landschaft durch den auf Irdische bezogenen Menschen, der sich die Erde skrupellos untertan macht und gemacht hat, Zeichen für die Eingriffe in die Natur, in deren Ablauf sich der Mensch gezielt und doch ziellos einmischt und in die er verantwortungslos eingreift. Sinwel zeigt uns auf eine sehr geheimnisvolle Weise die verschrammte, lädierte und geschundene Natur, oft kann sie kaum mehr atmen.

Die Flucht nach oben, in die sphärischen Gefilde, in das Nebulöse, Endgültige ist ein grund- legendes Element im Werk des sehr empfind- lichen und sensiblen Künstlers. Auch die neuen Landschaften haben wie seine früheren Grabsteinbilder etwas Palimpsesthaftes. Er malt seine Bilder, schabt das Gemalte ab, zerkratzt sie - so wie der Mensch die Natur. Immer aufs neue werden die Blätter beschrieben und übermalt. Das Palimpsest des Altertums tritt hier bei einem Künstler unserer Zeit wieder voll zutage.

Während des Malens überlegt er, revidiert seine Gefühle, verändert seine Gedanken, nichts ist ewig gültig und dennoch - scheint es aus den Bildern zu sprechen - gibt es das ewig Geltende. Es darf nicht aufgegeben werden - der Kampf ist oft sinnlos - dennoch spricht hier die Hoffnung, die Zuversicht, aber auch Zweifel und Liebe zur Welt, in der der Mensch nur vorübergehend zu Gast ist. Sinwel erzeichnet sich die Stille, die Atmosphäre, das magische in der Welt. Das Sein und der Tod sind nur zu erahnen, wenn man seine Bilder lange Zeit betrachtet. Sie sind meditativ und aufwühlend zugleich, sie vermögen uns zu tiefen Gedanken zu bringen, zu verborgenen Gefühlen und Ahnungen. Man muß an verwitterte und verblaßte Fresken denken, die der Zerstörung bereit anheim gefallen sind und auf denen man das Thema nur mehr vermuten kann. Figurales ist kaum noch schemenhaft vorhanden und nur mit der Phantasie nachzuvollziehen. Das macht die Bilder so geheimnisvoll und läßt sie zu Symbolen unserer Zeit werden, in der vieles schon im Nebel der menschlichen Gedanken verkommen und vergessen ist, vieles, was früher elementare Bedeutung hatte, kann heute nicht mehr erfühlt werden. Sie zeugen vom Verlust der Verinner- lichung des Menschen, der Demut und Verbundenheit mit der Natur, sie berichten vom Verlust der Gefühle den anderen und uns selbst gegenüber. Sie lassen die Oberflächlichkeit spüren, die in unsere Welt eingezogen ist, den Verlust von Aufnahmebereitschaft und der Lust und Freude an den kleinen Dingen. Die Beschäftigung mit Sinwels Bildern vermag mitunter eine Möglichkeit zu geben, sich dieser kleinen Dinge im Leben wieder zu besinnen, er läßt Melancholie, auch menschliches Streben und Sehnsucht nach Erfüllung und Glück daraus sprechen. Die Suche nach Ruhe, Frieden und nach dem Tod wird zum unleugbar Elementaren. Es sind dennoch positive Arbeiten, die Sinwel auf Holz und Karton malt. Er hat seine "inneren Landschaften" entdeckt und entwickelt. Es sind Empfindungslandschaften, in denen Gefühle und Stimmungen zum Ausdruck gebracht werden.

Auf Anhieb ist seine Malerei dem Betrachter verschlossen, man muß erst die geistigen und malerischen Schichten durchdringen und zu dem vorstoßen, was hier malerisch erfühlt wurde. Es ist die Suche nach dem Anfang, nach dem spontanen Ansatz. Wenn man diesen erkennt und nachempfindet, können sich Gedanken und Gefühle weiter entwickeln. Ob abstrakt oder ins Gegenständliche reichend, es gibt keinen künstlerischen Begriff dafür und das macht schließlich die eigenwillige Ausstrahlung aus. Auch sakrale, dem Menschen unbegreifliche Elemente sprechen aus seiner Arbeit. Die in seine Bilder eingefügte, aber unleserliche Schrift ist das Symbol für das Unvermögen des Menschen, seine Gefühle richtig zu erkennen und einzuschätzen. Immer mehr verflüchtigt sich die konkrete Landschaft, sie wird von Atmosphäre verschlungen und löst sich in ihr auf. Somit verflüchtigt sich das Materielle und Konkrete. Sinwel will ausloten; für sich und für sein Schaffen wenigstens einen Schatten greifen, um an das Endgültige herankommen zu können.

Auch in seiner grafischen Arbeit wird das Lineare immer mehr zurückgedrängt, die Blätter werden zusehends heller und haben leichte, schwebende Farbtöne. Sinwel will malerisch erkunden, wie wenig Mittel nötig sind, um Illusionen hervorzurufen. Er ist ein Darsteller der menschlichen Existenz in besonderer Art und Weise, er will das Geheimnis um unsere Gefühle zu lüften versuchen, aber auch alten Spuren nachgehen, um herauszufinden, wie an die Zeichen der menschlichen Existenz und das Menschliche an sich heranzukommen ist. Es sind dies esoterische Zeichen eines Künstlers und Arbeiten eines Malers, der in seiner beseelten Seele eine dringend nötige Beseelung unserer Existenz fordert.
 
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