kommentare/autoren/prof. ulrich horstmann 'sinwel's sinn- und sinnenwelt''



W
olfgang Sinwel arbeitet vorwiegend nachts und bei Kunstlicht. Eigentlich könnte das Atelier gut in einem der beiden Hochbunker aus dem Zweiten Weltkrieg liegen, die man im 3.Wiener Gemeindebezirk passiert, bevor man bei ihm anklopft. Es macht sein Werk verständlicher, wenn man meterdicke Mauern um diesen gastfreien und zugänglichen Menschen herumphantasiert und - wo wir gerade bei unfreundlichen Akten sind - mit der restlichen Einbildungskraft die vertraute Aussenwelt zerbombt, verseucht, in Schutt und Asche legt. Alles wüst und leer, ja, so muss man sich die Ausgangsposition seiner Malerei vorstellen; nur ein Schutzraum ist übrig und darin eine einzige Menschenseele. Sie malt bis ans Ende ihrer Tage und bedeckt die Wände - nein, nicht mit Verdoppelungen der auswärtigen Katastrophe, sondern, wie sich das im Wüsten und Leeren gehört, mit Anfängen und Schöpfungsgeschichten.

Und Sinwel sah, dass es gut war, und der Betrachter, von seinem Ausflug ins eigensinnige Als-ob zurück, sieht es auch. Was hat er vor sich? Unberührte Landschaften, neue Welten, Panoramen wie von anderen Planeten, die verheissungsvolle Latenz des nie Dagewesenen, Augenweiden allemal.

Das klingt nicht von ungefähr nach Kontemplation, nach einem beschaulichen Schweben, wie es jene Dunstschleier vorführen, die bei Sinwel über die Szenerie driften. Auch hier brütet ein Geist über den Wassern, und wir sind eingeladen, es ihm gleichzutun. Uns sattzusehen an dem Frieden, der Arglosigkeit, der Unschuld der ersten Schöpfungstage - diesem wahrhaft paradiesischen Intervall vor dem verhängnisvollen Lasset uns Menschen machen.Uns zu erfreuen an der Behutsamkeit und Virtuosität, mit der auch diese Welten komponiert sind: an der Delikatesse der Lasuren, dem unerschöfplichen Nuancenreichtum der Grün-, Blau- und Brauntöne, dem Urzeitlicht, der Atmosphäre mit dem tanzenden Schimmer noch ungebrochener Versprechungen darin. Eingeladen, uns selbst zu entrinnen und in makrokosmischen Stilleben zu verlieren, die auf vielleicht einem Quadratmeter Malfläche den Eindruck unendlicher Weite zu erzeugen vermögen.

Was ist das malerische Äquivalent von Sirenenklängen? Ich habe keine Antwort dafür, aber ich weiß, dass Wolfgang Sinwel diese Entsprechung gefunden hat. Die Trennungslinie zwischen Himmel und Erde liegt bei ihm immer ganz oben am Bildrand. Und wenn sie zusätzlich gekippt ist, wie bei einigen neueren Arbeiten, radikalisiert sich die Dynamik unseres visuellen "Anflugs" und "Einschwebens" zu der einer "Notlandung" oder sogar trudelnden "Abstürzens".

Der Bildbetrachter startet aber nicht, schon gar nicht zu einem Kurzurlaub ins prospektschöne Sinwelanesien; er befindet sich vielmehr im Sinkflug, auf dem Wege nach unten, dringt ein in Gefilde, die ihn nie mehr freigeben werden. Ein antriebsloses Fluggerät schwingt sich nach dem touch down nicht von selbst wieder in die Lüfte, und den Motivationsschub, der uns frohgemut zurückkatapultierte in das schleichende Inferno zu Hause und den Weltfraß unserer Hochzivilisation, verzehrt und neutralisiert Sinwels Sinn- und Sinnenwelt. Sinnlich und zutiefst verführerisch erscheint sie in ihrer topografischen Vielfalt, den mal melancholisch-verdüsterten, mal frühlingshaft-lichten Stimmungen, sinnlich und in der ostentativen Abwesenheit der hektischen, alles manisch verweilenden Bescheidwisser zugleich so berstend sinnvoll und wahr, dass das, was da in unseren Gesichtskreis tritt, gleichwohl über unseren Horizont geht.

Der Mensch, der diese unbefleckten Gegenwirklichkeiten aus gemeinhin nicht mehr zugänglichen Freiräumen im Gedankenbeton heraufbeschwört, weiss selbst nicht wie. Kein Halbgott, kein Guru, kein Schein-Heiliger, spricht Sinwel von einer für mich selbst rätselhaften Tätigkeit. Und das meint jenes mühselige Gelingen jenseits allen handwerklichen Könnens, das er als Vorleistung schon immer offenlegte. Von der ars-celare-artem-Doktrin, der Selbstverbrämung des künstlerischen Machens, hat Sinwel nie etwas gehalten. Gerade weil er ein Meisterillusionist ist, konnte er sich das Vorführen der Techniken immer schon leisten, ja, es wird ihm gleichsam zu einem Gebot ästhetischer Wahrhaftigkeit, zum Anlass ständiger Selbstprüfung und Selbstversicherung.

Schon in einem Frühwerk biegt sich der Landschaftsrand hoch wie bei einer unzulänglich geklebten Bildtapete und dementiert damit den Eindruck räumlicher Tiefe, der sich gleichwohl behauptet. Später zerfasert die Textur das Über- und Gegeneinadner der Pinselstriche, die Landschaft erzeugen, zum Vordergrund hin in ein immer groberes erratisches Muster ohne gegenständlichen Bildwert, sodass niemand die Zweidimensionalität des Trägers und des darauf "Fabrizierten" übersehen kann. Und doch gewinnt das Werk durch die Selbstherausforderung seines Urhebers nur an Intensität, und der Sog in die Tiefe des sich öffnenden Raumes wird durch die visuelle Barriere, über die es den Betrachter hiwegstrudelt, nur noch unwiederstehlicher.

Und dennoch. All diese Einsprüche, Aufklärungen, Fussangeln tun der Faszination dieser Seelenlandschaften keinen Abbruch, bringen die zu Farbschwingungen gewordenen Sirenenklänge aus der Menschenleere und dem Reich des Unberührten und Unverdorbenen nicht zum Verstummen. Die Sehnsucht wächst mit den Widerständen, mit der selbst ins Bild gehobenen Unzulänglichkeit. Nur dort, wohin wir nicht gelangen können, würden wir geborgen sein. Nur dort, wo wir nicht sind, ist Eden.
 
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